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Aktivismus im Zeitalter des Finanzkapitalismus

Die kapitalistische Wirtschaftsordnung hat seit den 1970er Jahren einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Heute wird ein nicht unerheblicher Anteil an der euro-atlantischen Wirtschaftsleistung nicht mit der Produktion oder den Austausch von Gütern, sondern durch Finanzdienstleistungen und Finanzspekulationen erbracht, d.h. durch die Erzielung von Gewinnen mittels einer auf Preisveränderungen ausgerichteten Investitionstätigkeit, die auf der Ausnutzung zeitlicher Preisunterschiede zwischen Kauf und Verkauf von Anlagen und deren Rendite beruht. Auf diese Art der Geschäftstätigkeit entfallen etwa 5,2 % des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP), Tendenz steigend. Es werden also Gewinne erwirtschaftet, denen eigentlich keine Wertschöpfung gegenübersteht. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wird daher häufig vom Zeitalter des „Finanzkapitalismus“ gesprochen.  Dieser Artikel versteht sich als ein erster gedanklicher Umriss und Impuls hin zu neuen Formen des Arbeitnehmer-Aktivismus, der diesem einschneidenden Umbruch in unserer Wirtschaftsweise gerecht werden möchte.

Es mag paradox anmuten, doch viele Manager und CEOs sind heute nicht mehr so sehr auf den Gewinn ihres Unternehmens bedacht, den es durch den Verkauf seiner Produkte oder angebotenen Dienstleistungen erwirtschaftet, sondern viel eher auf die Erlangung des Kredits bzw. der Investitionen die sie benötigen, um ihre Produkte herzustellen oder ihre Dienstleistung anzubieten. Denn der Erfolg einer Investition (und demnach auch die Wahrscheinlichkeit eine Investition zu erhalten) bemisst sich für einen Investor nicht am Gewinn eines Unternehmens, sondern am Kapitalgewinn aus dem nächsten Aktienverkauf. Aktiengesellschaften und andere Investitionsempfänger sind daher in erster Linie daran interessiert ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie das beste Produkt auf dem Markt anbieten wollen, sondern dass sie für die Anleger aus der Finanzbranche so attraktiv wie möglich sein müssen.

Diese Logik lässt sich ohne Weiteres auch auf Staaten und deren regierende Politiker übertragen. Anstatt ein langfristiges Wirtschaftswachstum anzustreben oder die Transformation hin zu einer auf erneuerbaren Energien basierend Wirtschaft voranzutreiben, sind sie vornehmlich daran interessiert die Standortattraktivität ihres Landes für Investoren und deren Investitionen zu steigern. Damit einher gehen knappe Kassen in den Staatshaushalten, zumal das erste Mittel zur Steigerung der Investitionsattraktivität niedrige Steuersätze auf Unternehmens- oder Kapitalerträge ist. Doch ebenso wie die Politiker den Abzug von Standortinvestitionen fürchten, fürchten sie weitreichende Einsparungen, die in der Regel bei den Wählern unpopulär sind und die eigene Wiederwahl gefährden. Die Politik der vergangenen Jahrzehnte war daher letztlich dadurch gekennzeichnet, dass die niedrige Besteuerung durch die Anhäufung von Staatsschulden kompensiert wurde.

Eine weitere Folge der „Finanzialisierung“ der Wirtschaft besteht darin, dass die klassische, letztlich marxsche Deutung des Gegensatzes zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, kaum noch den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht. Nach dieser Interpretation eines sozioökonomischen Dualismus sind erstere Ausbeuter, da ihr Gewinn auf der Aneignung des von ihren Beschäftigten geschaffenen Mehrwerts beruht. Letztere werden ausgebeutet, da ihnen das Produkt ihrer Tätigkeit entzogen wird und sie einen Lohn erhalten, der lediglich den Marktpreis ihrer Arbeitskraft, nicht aber des von ihnen geschaffenen Produkts widerspiegelt. Investoren lassen sich kaum in dieses Schema der kapitalistischen Ausbeutung durch Lohnarbeit einordnen. Denn die Besonderheit des Investors besteht darin, dass er in der Lage ist, die Arten von Unternehmungen auszuwählen, denen Finanzmittel zuteilwerden. Anders ausgedrückt: Das Geschäft der Investoren liegt primär nicht in der Abpressung des durch fremde Hände geschaffenen Wertes, sondern in der Allokation von Kapital. Mehr als die ungerechte Aneignung ist also die Akkreditierung – die Festlegung wer oder was einer Investition würdig ist – ihr spezifisches Geschäft. Da das rückläufige Wachstum der westlichen Ökonomie zu einer langanhaltenden Kreditklemme geführt hat, konnten Investoren den Wettbewerb um ihre Finanzmittel voll ausnutzen, um außergewöhnlich hohe Renditen für ihre Investitionen zu verlangen. Noch besorgniserregender scheint jedoch die Tatsache zu sein, dass die Unternehmen dadurch den Präferenzen ihrer Investoren unterworfen und die Entscheidungs- und Verhandlungsspielräume der Unternehmensleitungen eingeschränkt wurden. Infolgedessen ist die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und Sozialverbände, die die Arbeitnehmer bei Tarifverhandlungen und anderswo vertreten, effektiv zurückgegangen. Denn welchen Wert kann eine zu erkämpfende Lohnsteigerung mit sich bringen, wenn Investoren ihre Investitionen zurückziehen und die Räder zum Stillstand kommen?

Es ist augenscheinlich, dass neue Formen der Profitgenerierung und neue Machtverhältnisse zu Ungunsten der Arbeitnehmer zwangsläufig auch neuer Formen des Aktivismus bedürfen. Auch die Arbeit der KAB darf sich nicht allein darauf beschränken für eine gerechte Einkommensverteilung einzutreten. Ein Hauptanliegen muss ebenfalls darin bestehen die Bedingungen der Kapitalallokation mitzubestimmen, d.h. Einfluss darauf zu nehmen, was und wie produziert werden soll. Ein Zauberwort, welches der belgische Philosoph Michel Feher in diesem Zusammenhang prägte, lautet Gegenspekulation: Konfrontiert mit profitgierigen Investoren, die auf den kurzfristigen Wertzuwachs ihre Investitionen spekulieren, müssen die Aktivisten von heute die Kunst der Spekulation beherrschen und Investoren auf ihrem eigenen Terrain herausfordern. Kurz um, sie müssen sich mit den Bedingungen auseinanderzusetzen, unter denen Kredite vergeben werden, und eine Veränderung dieser Bedingungen erkämpfen.

In der Umsetzung kann dies den Versuch bedeuten, die Attraktivität sozialgerechter Investitionsmöglichkeiten zu steigern, etwa dadurch, indem sich Investitionen anhand von sozialen Bewertungskriterien messen lassen müssen. Es kann aber auch bedeuten sozial ungerechte Investitionen öffentlich zu diskreditieren und sie dadurch für den Investor als unangemessen riskant erscheinen zu lassen. Natürlich darf man sich dabei keinen Illusionen hingeben. Zwar ist es durchaus möglich – und das zeigen Aktivisten weltweit – Investoren von einer Investition abzubringen, aber wohl kaum deren Herzen und Verstand zu gewinnen. Zu den konkreten Mitteln dieser Form der Gegenspekulation gehören beispielsweise Aufrufe zum Boykott der Waren eines Unternehmens, Sammelklagen gegen rechtlich zweifelhafte Praktiken, die Aufdeckung kompromittierender Informationen, sowie Kampagnen zur Förderung alternativer Produkte oder Produktionstechniken.

Bei diesen Vorschlägen handelt es sich keinesfalls um revolutionäre Ideen, die den Aktivisten der Arbeitnehmerseite fremd wären. Im Gegenteil. Allerdings ist die Stoßrichtung eine andere als in der „klassischen“ Auseinandersetzung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber: Es sollte nicht nur der Versuch unternommen werden, an die Gefühlswelt und Solidarität der Öffentlichkeit bzw. der Konsumenten zu appellieren, die Produkte oder Dienstleistungen erwerben. Vielmehr müssen sich diese Mittel des Kampfes direkt gegen die spekulierenden Investoren, Aktionäre und Finanzmärkte richten. So können Anleger, deren Portfoliobewertungen durch eine sensibilisierte Öffentlichkeit gefährdet sind, von bestimmten Investitionen abgebracht werden. Manager und CEOs wiederum müssen befürchten, dass die Attraktivität ihrer unternehmerischen Geschäftstätigkeit für deren Finanziers abnimmt, sollten etwa Zweifel an der Legitimität bestimmter Praktiken oder Verhaltensweisen bestehen.

Mit all dem sei natürlich nicht gesagt, dass der Antagonismus zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern keinerlei Bedeutung mehr hätte. Es soll vielmehr darauf hinweisen, dass Sozialverbände wie die KAB auch dieser "neuen" Dimension sozialer Ungerechtigkeit und verschobener Machtverhältnisse in der Arbeitswelt im Zeitalter des Finanzkapitalismus Rechnung tragen müssen.

Autor: Stefan Hanft

Mehr zum Thema:
Feher, Michel: Rated Agency. Investee Politics in a Speculative Age, New York 2018.

Bild: Gerd Altmann / Pixabay

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